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03.07.2008Covadonga Verlag

TdF-Special, Teil 1: Heimweh nach der Tour

358.gifAn der Vorbereitung wird es nicht liegen. Wenn die Fußballeuropameisterschaft uns irgendetwas gebracht hat, dann Sitzfleisch. Und wir können ruhig sitzen bleiben, denn die EM geht beinahe nahtlos in die Tour de France über.

Doch ließ ich beim Fußball auch schon mal ein Spiel aus, so werde ich während der Tour jeden Tag mit der Nase vorm Bildschirm kleben. Ich werde es wohl müssen, als Kolumnist der diversen Tageszeitungen aus der Verlagsgruppe Verenigde Nederlandse Uitgeversbedrijven. Eine Strafe ist das nicht gerade. Ich kann mir langweiligere Tätigkeiten vorstellen – und auch schwerere. Die Teilnahme an einer Tour de France zum Beispiel, für die man schon etwas mehr benötigt als nur trainiertes Sitzfleisch.

Acht Tour-Starts haben mich gelehrt, dass Le Grande Boucle nichts anderes ist als eine dreiwöchige Marter auf einer französischen Folterbank. Und französische Folterbänke sind nicht gerade weich, das kann ich Ihnen versichern. Umso merkwürdiger ist das Heimweh, das mich jedes Jahr überkommt, wenn sich dieser kuriose Zirkus in Bewegung setzt. Radrennen im Allgemeinen und die Tour im Besonderen machen so süchtig, dass man nicht mehr davon los kommt.

Ein ehemals eingefleischter Raucher, der vor fünfzehn Jahren zum Nichtraucher wurde, erzählte mir einmal, dass er noch täglich Verlangen nach einer Zigarette hat. Allein der Gedanke an seinen Bypass hält ihn davon ab, diesem Verlangen nachzugeben. Ungefähr so ergeht es auch dem Ex-Radrennfahrer. Süchtig bis ins Mark hat er sich auf dem Sofa hingeflegelt, um dem Grauen einer Alpenetappe beizuwohnen. In den hohläugigen Kreaturen, die sich dort vorwärts quälen, erkennt er sich selbst. Doch dann erinnert er sich an die Tracht Prügel, die er sich selbst zugefügt hat, und denkt: Schön, dass jetzt andere das Staffelholz übernommen haben, ich schütte mir in Ruhe noch einen Kaffee ein. Oder, pffft..., eine Flasche Pils ist auch klasse, denn der Kommentar, der die Bilder begleitet, ist zum Heulen. Der Ex-Profi denkt sich seine eigenen Untertitel aus.

Aber worin besteht das süchtig machende Element des Radsports und worin das Heimweh? Ich kann getrost eine wissenschaftliche Erklärung riskieren, also hier ist sie: Endorphin. Ein Leistungsphysiologe hat es mir einmal erklärt. Endorphin ist ein morphinartiger Stoff. Doch diese Substanz wird weder gespritzt noch »eingeworfen«, sondern in den eigenen Hirnzellen produziert – im Hypothalamus, wenn ich mich recht entsinne. Vor allem bei schweren Anstrengungen wird viel davon freigesetzt. Der Körper reagiert auf seine Schmerzen, indem er diese mit Endorphin betäubt. Es handelt sich also um ein kostenloses Schmerzmittel. Manchmal legt die Natur sich quer und manchmal reicht sie helfend ihre Hand.

Endorphine haben noch einen weiteren Effekt, nämlich die Euphorie: Es ist das Gefühl, high zu sein, das den Sport mitunter so herrlich macht. Dieses Phänomen ist auch als »Runners High« bekannt. In Amerika (wo sonst?) war dies lange ein Hype: Man begann massenhaft zu joggen, und man lief und lief und lief so lange, bis man schließlich das Stadium der glückseligen Erschöpfung erreichte. Fast überflüssig, zu erwähnen, dass dieses Stadium allein denjenigen vorbehalten war, die über ein kräftiges Herz verfügten. Es gab auch Tote.

Wie dem auch sei, es ging um den Rausch. Aber leider macht Endorphin genauso süchtig wie das berüchtigte Morphin. Den Stoff und die Sucht machst du dir selbst als Geschenk. Viel schwieriger zu beantworten ist die Frage: Wie kommst du wieder davon los? Indem du Anstrengungen meidest, mag man denken. Und wahrhaftig, es funktioniert. So einfach jedoch lässt die Natur sich nicht unterdrücken. Der Ex-Radrennfahrer ist zu einer lebenslangen Entziehungskur verurteilt – mit all den dazugehörigen Entzugserscheinungen und Schmerzen. Er behilft sich mit Live-Übertragungen im Fernsehen.

»Die Zeit heilt alle Wunden«, diese Redensart geht in diesem Fall nicht auf. Auch deshalb nicht, weil der Ex-Radrennfahrer der Einfachheit halber vergisst, dass das Endorphin nach zehn Tour-Tagen angesichts der Plackerei nicht mehr viel ausrichten kann.

Natürlich ist die chemische Erklärung mager, und sie wird der Sache auch nicht gerecht. Genauso süchtig machen auch die Spannung des Wettkampfs, das Interesse der Medien, das Umherziehen durch Frankreich mit dem Wohnwagen, der Peloton heißt, der Ehrgeiz, die Obsession, die Scheuklappen und – nicht zu vergessen – der Geschmack des Sieges (auch wenn im Allgemeinen öfter verloren als gewonnen wird).

Jan Wauters, der berühmte flämische Radsportjournalist schrieb einmal: »Gewinnen ist Flambieren, es ist orgiastisch.« Das kann ich nur bestätigen. Obwohl... Einst, bei meiner allerersten Tour, verbuchte ich in Alpe d’Huez meinen allerersten Sieg als Profi. Es war eine bestürzende Erfahrung. Indem ich mich wie verrückt abgestrampelt hatte, um ein paar Sekunden Vorsprung auf Hinault und andere zu halten, hatte ich so viele Reserven verbraucht, dass ich im Ziel noch nicht einmal dazu fähig war, einen Fluch auf die Mauer zu kritzeln. Geschweige denn, dass ich genügend Energie hätte mobilisieren können, um mich einfach ein bisschen zu freuen. Das kam erst später. Viel später. Nach zwei bis vier Monaten. Denn so lange dauerte es, bis ich mich von dieser einen Aktion erholt hatte…

von Peter Winnen

Aus der soeben erschienenen Kolumnen- und Kurzgeschichtensammlung "Gute Beine, schlechte Beine - Geschichten vom Radfahren".



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