10.07.2008Covadonga VerlagTdF-Special Teil 4: Neues Team für Jean Kirchen

"Kim Kirchen, der Luxemburger" heißt der neue Mann im
Maillot Jaune. Sein Großonkel Jean spielte schon vor genau 60 Jahren bei der Tour de France 1948 eine bemerkenswerte Rolle, wie
Benjo Maso in seinem akribisch recherchierten Werk "Wir alle waren Götter" zu berichten weiß:
Einer von Bartalis Besuchern am Ruhetag in Aix-les-Bains war Ronconi. Dieser kam nicht nur zum Gratulieren, sondern auch um einen Vorschlag zu machen. Nach den beiden Alpen-Etappen lag der Kapitän der Cadetti mit einem Rückstand von fast anderthalb Stunden in der Gesamtwertung auf dem 19. Rang. Nun, da alle Chancen auf einen Ehrenplatz vertan waren, schlug er vor, sich im Tausch für einen Teil des Preisgeldes mit seinem Team in den Dienst von Bartali zu begeben. Bartali lehnte ab. Nicht, wie viele Journalisten unterstellten, weil er es Ronconi übel nahm, dass dieser bei den vorangegangenen Etappen nicht mit ihm hatte zusammenarbeiten wollen. Der Grund war ein anderer: Bartali hatte ganz richtig erkannt, dass sein Landsmann inzwischen einfach zu erschöpft war, um ihm noch eine Hilfe zu sein. Schon am nächsten Tag sollte Ronconi nach der Hälfte der Etappe das Rennen aufgeben.
Die drei übrig gebliebenen Cadetti, Seghezzi, Magni und Lambertini, wurden dann nachträglich in das Team von Bartali eingereiht. Offiziell blieben sie während des Rennens selbstständig, genossen fortan jedoch dieselben Annehmlichkeiten wie die italienische Nationalmannschaft. Das war 1948 nichts Ungewöhnliches. Es geschah oft, dass eine stark geschrumpfte Equipe anderswo untergebracht wurde. Der Grund dafür war finanzieller Natur. Wenn zwei Teams zusammengelegt wurden, bedeutete dies nämlich, dass eine komplette Mannschaft vom Teamchef bis zum Masseur und Pfleger nach Hause geschickt werden konnte. Und daraus ergab sich für die Organisatoren eine erhebliche Kostenersparnis. So erfuhr auch Bonnaventure, der letzte übrig gebliebene Bretone, in Aix, dass er für den Rest der Tour zum Nordost-Team zählen würde.
Jean Kirchen fand ebenfalls neuen Unterschlupf, doch das hatte andere Gründe. Er hatte nämlich das Pech, der einzige Luxemburger in einer Mannschaft zu sein, die ansonsten nur aus Niederländern bestand. Der Chef d’Equipe war der berühmte Sportreporter Joris van den Bergh. Es kam in dieser Zeit oft vor, dass Journalisten als Teamchefs angestellt wurden – jedoch nur selten mit Erfolg. Offenbar stimmte das Bild, das sie über Jahre hinweg von der Tour geschaffen hatten, nur sehr bedingt mit der Wirklichkeit überein, in der die Radrennfahrer lebten. Auch Van den Bergh war trotz seiner literarischen Qualitäten für die Rolle des Teamchefs vollkommen ungeeignet.
Ihm war wahrscheinlich selbst sehr wohl bewusst, dass sein Wissen über Radrennen auf der Straße unzureichend war. So versuchte er nie, so etwas wie eine Strategie oder Taktik zu entwickeln, und überließ die Rennfahrer während der Etappen völlig sich selbst. Sein Chauffeur, der fünffache Weltmeister Piet Moeskops, der Held von Van den Berghs Meisterwerk „Temidden van de kampioenen“, tat sein Bestes, um den Fahrern des Teams möglichst viel zu helfen. Doch als Bahnsprinter wusste er ebenso wenig, auf welche Weise eine Tour de France gefahren wird. Nach dem Ende der Rundfahrt erklärte er, dass er plane, ein wenig mit Gangschaltungen zu experimentieren – die Bahnräder, mit denen er immer gefahren war, hatten nämlich eine fixe Übersetzung. Auf diese Weise hoffte er, den Sportlern im nächsten Jahr etwas besser mit Rat und Tat zur Seite stehen zu können. Es war gut gemeint, doch die niederländischen Radrennfahrer hätten von einem erfahrenen Ex-Profi, der selbst auf der Straße gefahren war, zweifellos mehr gehabt.
Kirchen hatte an sich kein Problem damit, dass sein Teamchef nicht kompetent war. Viel schlimmer war, dass Van den Bergh ihn während der Bergetappen nicht mit den dringend benötigten Verpflegungsbeuteln versorgt hatte. Der niederländische Chef d’Equipe betrachtete die Luxemburger nämlich als lästige Eindringlinge und fuhr immer konsequent hinter seinen eigenen Landsleuten. Und weil diese in den Bergen stets weit abgeschlagen waren, traf der hervorragend kletternde Kirchen an den Verpflegungskontrollen üblicherweise niemanden an. Dies war ihm zum ersten Mal bei der Etappe Lourdes–Toulouse passiert, bei der er bei Robic und Lapébie um Essen hatte betteln müssen. Auf dem Weg von Cannes nach Briançon hatte er auf anderem Wege etwas Essbares aufgetrieben, während Jean Garnault, der Generalsekretär, ihn bei der Etappe Briançon–Aix-les-Bains versorgt hatte.
Trotzdem war Kirchen gezwungen gewesen, einen Großteil der schwersten Bergetappen in der Geschichte der Tour de France mit leerem Magen zu bestreiten. Die Aussicht, derlei noch einmal zu erleben, erfüllte ihn mit so viel Entsetzen, dass er trotz seines achten Platzes in der Gesamtwertung ankündigte, das Rennen aufzugeben. Dass es nicht soweit kam, war Pol Vandervelde, dem Teamchef der »jungen Adler«, zu verdanken.
Dieser hatte, soweit das überhaupt möglich ist, noch weniger Ahnung von Straßenrennen als Joris van den Bergh. Er nahm eine leitende Funktion beim belgischen Radsportverband ein und hatte bereits die Tour de France 1947 begleitet. Doch hinter vorgehaltener Hand hieß es, dass er seinen Posten als Chef d’Equipe vor allem deshalb bekommen hatte, weil er der Inhaber des Cafés war, das von Charles Smulders frequentiert wurde, dem Präsidenten des belgischen Radsportverbandes. An Begeisterung mangelte es Vandervelde sicherlich nicht, und er hatte außerdem ein Herz für die Rennfahrer. Als er von Kirchens Abenteuern hörte, schlug er dem Luxemburger sofort vor, sich seinem Team anzuschließen – oder besser gesagt, dem kümmerlichen Rest, der davon übrig geblieben war. Denn nur noch Engels und Dupont waren im Rennen. Kirchen war natürlich einverstanden.
Nun, da der Luxemburger auf eigenen Entschluss hin weiter an der Tour teilnahm, blieben noch 51 Fahrer übrig. Den meisten schauderte es bei dem Gedanken, dass sie am nächsten Tag erneut in die Alpen geschickt werden sollten. Es hieß, dass auf dem Col de l’Iseran, der nicht weit von der Strecke entfernt lag, zwei Meter Schnee gefallen waren. Und den Berichten der Meteorologen zufolge war der Schlechtwettereinbruch noch längst nicht vorbei...
Aus:
Benjo Maso: "Wir alle waren Götter", Covadonga Verlag 2006, ISBN 978-3-936973-23-5zurück zur Newsübersicht